Interview (Auszug):

Franziska Notter-Keller: „Nachdem ich in meiner Vergangenheit geblättert und nach einem meiner persönlichen Brückenbauer gesucht hatte, blieb ich bei einem besonderen hängen; mein damaliger Berufsberater Thomas Spielmann. Er half mir beim Einstieg in die Berufswelt.

Nach über zwanzig Jahren telefonierte ich ihm also und bat ihn um dieses Interview ­ seine Zusage kam prompt.

Als ich einen Blick auf seine Homepage warf, war ich einen Abend lang damit beschäftigt, seine diversen Weiterbildungen im In- und Ausland nachzulesen, sowie Auslandaufenthalte nach Westafrika, Südasien, Australien und Neuseeland zu verfolgen. Während mehrerer Monate hatte er nämlich mit dortigen Menschen zusammengelebt und deren soziokulturelle Identität studiert. Zudem ist der einer der wenigen Sexualpsychologen in der Schweiz. Somit ist er ein sehr vielseitiger Brückenbauer geworden.“

Thomas, ich staune, was aus meinem ehemaligen Berufsberater geworden ist. Welche Sequenzen deiner früheren Arbeit sind dir in Erinnerung? 

Eine Schülerin teilte mir mit, dass sie an die Kanti möchte, und sie kenne da auch bereits einen Absolventen. „Welcher Typ“, fragte ich sie und dachte dabei nüchtern und mit beginnender „déformation professionelle“ an Maturitätstypen. Sie meinte: „Also einen mit dunklem Kraushaar und ganz warmen Augen, so ein richtiger Südländertyp.“ Da wusste ich, dass ich dringend Ferien brauchte.

Einmal suchte mich ein Abschlussklassenschüler auf, der als Punk Furcht einflössend aussah. Zudem beschwerten sich Schülerinnen immer wieder, von einem Schüler geplagt zu werden. Ich dachte, das könne nur besagter Punk sein und ging der Sache nach. „Neinneinnein!!!“ wehrten die Schülerinnen ab, dieser Punk sei doch derjenige, der ihnen immer zu Hilfe eile. Seitdem bin ich ausgesprochen misstrauisch mir selbst gegenüber, wenn ich bei mir aufkommende Vorurteile gegenüber einer anderen Person feststelle.

 

Du hast anschliessend unzählige Weiterbildungen im In- und Ausland besucht und eine eigene Praxis eröffnet. Was war der Grund des Studiums anderer Völker?

Ein grosses Interesse an anderen Menschen und anderen Kulturen. Ich habe sehr früh gemerkt, dass ich von Menschen in anderen Kulturen sehr viel mehr lernen kann als diese von mir mit meinen eigenen kulturellen Normen und Vorstellungen.

 

Was konntest du von anderen Völkern lernen?

Dass das Gegenteil einer tiefen Wahrheit durchaus eine andere tiefe Wahrheit sein kann! Jemand, der die Welt nicht so sieht, wie ich sie sehe, ist weder verrückt, noch dumm, noch bösartig, sondern hat seine eigene Sichtweise, welche nicht weniger wahr sein muss als meine eigene. Ich habe diese offene Neugier gelernt, den anderen zu erkennen, und an der Fähigkeit geschnuppert, dem anderen Menschen direkt ins Herz zu schauen.

 

Welches sind deine Stärken, welches Deine Schwächen?

Meine Stärken sind Mathematisches Denken; ich kann meine Wahrnehmung Steuern; und ich habe ein „grossen Herz“

Schwächen habe ich einige, z.B. habe trotz jahrelangem riesigem zeitlichen und energetischen Aufwand nie Französisch gelernt.

 

Wie findest du den Zugang zu anderen Menschen?

Mich interessiert, wie der andere denkt und fühlt, ich versuche dem anderen mit warmem Herzen zu begegnen und ihn als einzigartigen Menschen zu akzeptieren. Das heisst überhaupt nicht, dass ich sein Verhalten akzeptieren oder seine Ansichten und Einstellungen gutheissen muss, aber den Menschen versuche ich ohne Bedingungen anzunehmen wie er ist. Ich denke, das gelingt mir ganz gut und ich mach sehr gute Erfahrungen damit. Letztlich bin ich es, dem es dabei gut geht.

 

Bist du ein wissensdurstiger Mensch oder weshalb hast du dich für die Psychologie entschieden?

Ganz unspektakulär: 1. haben mich andere Menschen, schon meine LehrerInnen und MitschülerInnen, immer sehr interessiert. 2. habe ich festgestellt, dass ich das gut kann, was der Psychologenberuf an Fähigkeiten und Grundhaltungen erfordert. Vielleicht bin ich eher ein besonders neugieriger als ein wissensdurstiger Mensch.

 

Was ist der Mensch?

Das hängt sehr vom eigenen philosophischen Menschenbild ab. Im Gegensatz zur Tiefenpsychologie etwa, der ich sehr wenig abgewinnen kann, weil da der Mensch ein von destruktiven Trieben, Impulsen und Instinkten festgelegtes Wesen ist, ist der Mensch für mich ein von Grund auf gutes soziales Wesen mit einer angeborenen Tendenz auf positives Wachstum. Ganz bestimmt geartete Beziehungen zu anderen Menschen fördern respektive hemmen dieses Wachstum. Zudem glaube ich, dass jeder Mensch einzigartig ist.

 

Bist du auch in deinem Freundeskreis der Berater oder kannst du zwischen Beruf und Privatleben trennen?

Ich bin in der glücklichen Lage, dass ich sehr schnell abschalten kann und privat kaum je in eine Berufsrolle falle.

 

Du bist einer der wenigen Psychologen, die eine sexualtherapeutische Zusatzausbildung haben. Weshalb gibt es nicht mehr Fachleute auf diesem Gebiet?

Da dürfte es drei Hauptgründe dafür geben: 1. Sexualwissenschaft ist eine komplexe Kombination von verschiedensten Fachgebieten: Psychologie, Geschichte, Politologie, Jurisprudenz, Ökologie, Ökonomie, Philosophie, Theologie, Soziologie, Ethnologie, Antropologie, Biochemie, Medizin, usw. usf. Sexualtherapeutisches Arbeiten erfordert eine hohe (mathematische) Fähigkeit, komplexe Sachverhalte miteinander in Beziehung zu setzen. Und diese Fähigkeit zu vernetztem Denken ist nun alles andere als eine typische Psychologen-Stärke. 2. Sexualität ist in unserem Kulturkreis ein emotional sehr stark besetztes Thema, auch für psychotherapeutisch tätige Fachleute. 3. Sexualwissenschaft ist ausgesprochen weiterbildungs-intensiv. Um den Menschen, welche unter sexuellen Schwierigkeiten leiden, die bestmögliche Hilfe stellen zu können, ist eigenes tägliches Lesen und Lernen nötig. Auch das ist nicht jedermanns Sache.

 

Für Freud war die Sexualität von zentralster Bedeutung. In den Medien wird meist ein falsches Bild davon übermittelt. Welches Bild von der Sexualität hast du?

Es gibt keine natürliche Sexualität. Kaum ein Bereich menschlichen Lebens ist so sehr abhängig von historischen, epochalen, politischen, ökonomischen, kulturellen, religiösen und soziologischen Einflüssen wie Sexualität. Ganz zentral ist für den Menschen Sexualität im Sinne von Frau- oder Mann-Sein. Dies geht sehr weit über genitale Sexualität hinaus! In den Medien wird sehr stark vermittelt, Sexualität sei Genitalität. Was für ein Irrtum! Für diese unheilvolle Entwicklung ist eine unheilige Allianz von Sexomanen und Sexophobikern schuld. Sowohl Sexomanen, für welche genitaler Sex das Alleinseeligmachende ist, wie Sexophobiker, welche in genitaler Sexualität den eigentlichen Inbegriff des Bösen sehen, prägen einträchtig und gemeinsam den gegenwärtigen Zeitgeist krass überbewerteter Genitalität.

 

Du bist seit über zwanzig Jahren glücklich verheiratet. Ist das in Psychologenkreisen nicht eher aussergewöhnlich?

Und zudem bin ich seit 34 Jahren mit meiner Partnerin zusammen. Ich bin nicht nur „zufrieden“ in dieser Partnerschaft, sondern ich bin „zutiefst glücklich“.

Ich habe mir abgewöhnt, in Psychologenkreisen von meiner glücklichen Partnerschaft zu erzählen. Vor allem Tiefenpsychologen vermuten dann sofort, dass mit mir etwas nicht stimme, dass ich etwas verdrängen würde. Und ich habe dann einmal entgegnet, wie viele Jahre ich also in eine Psychoanalyse kommen müsste, bis auch ich mich scheiden könnte …

 

Gibt es einen Geheimtipp dafür?

Ja, da gibt es eine ganze Anzahl Geheimtipps. Etwa der, dass Liebe nicht ein Betondenkmal ist, dass einmal geschaffen wurde, und dann steht es bis zum Lebensende. Vielmehr ist Liebe wie eine Pflanze, die konstant Nahrung braucht. Die einen „Lieben“ sind eher wie Kaktusse, die brauchen alle paar Wochen mal Nahrung, andere sind eher wie Tulpen, welche täglich bewässert werden müssen.

Käthi und Thomas Spielmann

Woran liegt dieser Trend zu Trennung oder gar Scheidung?

Auch da gibt es eine Menge verschiedener Gründe. Interessant ist vielleicht, dass bei jenen Völkern, bei denen Trennung und Scheidung sehr wenig vorkommt, „Treue“ anders definiert wird als bei uns. Nämlich als Verpflichtung, den Partner/die Partnerin ein Leben lang in einem prozesshaften Geschehen zu erkennen, in guten wie in schlechten Zeiten.

Vertragen sich Psychologie und Religion?

Und wie! Psychologie und Religiosität ohne tiefe Menschlichkeit geht nicht! Jene Erfahrung, die mich als Psychologe übrigens am meisten verunsicherte, hat mit Religion zu tun: Mehrmals habe ich an unterschiedlichen Orten dieser Erde mit Ethnien zusammengelebt, welche sich Gott als eine Frau vorstellten. Gemeinsam war ihnen, dass sie einander (und mir und meiner Frau) durchwegs mit sehr grosser Liebe und tiefer Menschlichkeit begegneten. Streit und Gewalt habe ich da kaum je erlebt.

Welche Rolle spielt für dich persönlich die Religion und der Glaube?

Ich glaube, dass ich ein sehr religiöser Mensch bin. Ich unterscheide sehr zwischen Religiosität und Institutionen, welche Religionen vertreten. Ich denke, dass religiöser Fundamentalismus, etwa zur Zeit der christliche Fundamentalismus aus den Vereinigten Staaten, eine grosse Gefahr für die Menschheit ist, zutiefst unmenschlich und deswegen unreligiös. Ich frage mich manchmal, ob es in der Welt nicht viel weniger Schmerz und Krieg geben würde, wenn sämtliche Weltreligionen beschliessen würden, für die nächsten 200 Jahre nur noch Frauen für hohe Kirchenämter, so etwa für Ayatollahs oder Kardinäle, zuzulassen.

Und zum Schluss meine Lieblingsfrage: Was ist dein Sinn des Lebens?

Die unendlichen Möglichkeiten, die in mir liegen, wenigstens zu einem kleinen Teil auszuloten. Und im Streben, alles was ich mache, beruflich und privat, mit ganzem Herz zu machen. Vor allem aber, für meine grosse Liebe ein guter Ehemann zu sein.