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Paradies und Sexualität

Veröffentlicht in der Zeitschrift «punktum», Dezember 2006

 

„Sage mir, wie Du Dir das Paradies vorstellst, und ich sage Dir, wer Du bist“, zitierte Commandante J 1978 ein geflügeltes Sprichwort seines Volkes, der Igorot im Norden der Philippinen. Von einer Lichtung im Dschungel über Baguio wies er auf die monströsen Sommerresidenzen der Marcos-Familie und fügte hinzu: „Und für die Einlösung ihrer Paradiesvorstellungen sind Menschen zu jeder Schandtat bereit.“ Seine eigenen Paradiesträume hatten wohl mit jenen des Diktators Marcos nichts gemein, aber auch er war – aus meiner Sicht – auf dem Weg zur Einlösung seiner Paradiesvorstellungen zu einer beträchtlichen Schandtat bereit gewesen, als seine Rebellen der New Peoples Army meine Frau und mich als Geiseln nahmen. Und so nebenbei hatte ich, die Mündung einer Kalaschnikow an der Schläfe, die Erfahrung gemacht, wie sich Hölle anfühlt. Aber nun war die Sache ausgestanden, weil ich keinen US-amerikanischen Pass besass, und vielleicht auch, weil Commandante J in seinem früheren Leben Philosophie und Psychologie studiert hatte, und ihm die Aussicht auf seltenen verbalen fachlichen Austausch über Freud und den Behaviourismus und Rogers besser gefiel, als mir den Schädel wegblasen zu lassen.

Wir sind SäuliämterInnen, FricktalerInnen oder ToggenburgerInnen – und haben eine geographische Identität. Wir sind PizzabäckerInnen, PsychotherapeutInnen oder PhysiklaborantInnen – und haben eine berufliche Identität. Usw., etc. Aber unsere fundamentalste Identität ist jene als Frau oder als Mann – Frau-Sein und Mann-Sein sowohl im Sinne des sozialen Geschlechts (Gender) als auch des biologischen Geschlechts (Sex), und hier sowohl ohne wie auch mit genitaler Erregung (Genitalität). Das Leben und Erleben als soziales und als biologisches Geschlechtswesen (ohne und mit genitalen Reaktionen) bezeichne ich als „Sexualität“. Sehr richtig benennt die argentinische Sexualwissenschafterin Cloe Madanes Beeinträchtigungen der Identität als Frau oder als Mann als „spiritual pain“, als Schmerz, der Mitten ins Herz trifft. Und ich kann die Aussage einer schwerstbehinderten jungen Klientin sehr gut einordnen, wenn sie sich alle paar Wochen einen Sexworker zum Küssen und Kuscheln anmietet und dazu mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen sagt: „Das sind jene Momente, in denen ich als Frau heil bin, und dann bin ICH heil.“

Für HistorikerInnen und EthnologInnen ist es eine Binsenwahrheit: wer die Sexualität von Menschen kontrolliert, wer deren fundamentalste Identität kontrolliert, hat die Macht. Um Aussagen über Machtverteilung in einer bestimmten Zeitepoche oder in einer bestimmten Kultur machen zu können, richten sie ihre Aufmerksamkeit auf die vorherrschenden Auffassungen, Gebote und Verbote betreffend Sexualität, auf vorgegebene sexuelle Normen oder Nicht-Normen. Eine Änderung von sexuellen Auffassungen, Geboten und Verboten lässt Rückschlüsse auf eine Veränderung oder Verlagerung des Machtgefüges innerhalb eines sozialen Systems zu. Wer hat Interesse an veränderten sozialen Normen im Bereich der Sexualität? „Patriarchale“ oder „matriarchale“ Akteure? Selbsternannte irdische StellvertreterInnen eines Gottes oder einer Göttin? Ökonomische, ideologische oder politische HeilsverkünderInnen? Wenn in unserem Kulturkreis jener Körperteil, welches Mädchen zu Mädchen und Frau zu Frau macht, als „Scham“ mit grossen und kleinen „Scham“lippen bezeichnet wird, wirkt sich dies auf die soziosexuelle Entwicklung von Mädchen aus, wie die deutsche Linguistin Luise F. Pusch feststellt (in: „Das Deutsche als Männersprache“; Surkamp 1984). Was Frau biologisch von Mann unterscheide, sei etwas zum „Schämen“. Da Mann weder „Scham“bällchen noch „Scham“stengel hat, bleibt für das gemeinsame Schämen nur noch das „Scham“haar, welches jedoch mit wenig Aufwand weggetrimmt werden kann. Pusch schlug 1984 vor, den Begriff „Scham“ mit „Charme“ zu ersetzen. Und in der Tat braucht es wenig Phantasie sich vorzustellen, dass ein kleines Mädchen mit etwas zum „Charmen“ zwischen den Beinen mehr weibliches Paradies empfinden könnte als mit etwas zum „Schämen“, als erwachsene Frau aus einer positiv besetzten weiblichen Identität heraus gegenüber Männern selbstbestimmter und fordernder auftreten würde.

Auch im Dienste von Machterwerb oder Machterhaltung geschürte kollektive (männliche) Ängste, deren Bewältigungsversuche und deren Nutzniesser lassen sich in der Beschäftigung mit Sexualität in anderen Zeitepochen und anderen Kulturen ersehen. Die industrielle Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts etwa hat in einem Ausmasse wie in keiner Epoche zuvor die Frau auf die Rolle der familiären Fürsorgerin und den Mann auf die Rolle des materiellen Versorgers festgelegt. Verlust des männlichen Samens (jener des Arbeiters, nicht jener des Grossindustriellen) wurde mit Verlust der Lebens- und Arbeitskraft gleichgesetzt. Kanalisiert in der Ehe durfte Genitalität massvoll zur Reproduktion zukünftig benötigter Arbeitskräfte eingesetzt werden. Masturbation war in hohem Masse mit Angst besetzt, galt sie doch als vorsätzliche Selbstzerstörung, führte zu Schwindsucht (und anderen schrecklichen Krankheiten) und musste deshalb mit allen (auch drastischen) Mitteln unterbunden werden. Die Ängste vor onanistischem Verderben wurden schliesslich mit der Entdeckung gemildert, dass der Drang zum Masturbieren mit bestimmter Ernährung unterbunden werden könne: 1834 eroberte der Arzt Sylvester Graham, 1874 der Nicht-Mediziner John Harvey Kellog mit einem Brot respektive einem Frühstücksgericht den Markt.

Paradiesvorstellungen sind ein hochwirksames Mittel, erwünschte soziale Regeln und Normen im Bereich der Sexualität zu installieren und zu erhalten. In einem komplexen dynamischen, prozesshaften Geschehen wirken Paradiesvorstellungen und Vorstellungen erwünschten Sexualverhaltens nach den Prinzipien des Regelkreises aufeinander ein und erhalten sich selbst.

So sind bestimmte sexuelle Aushaltens- und Enthaltungsvorschriften im irdischen Leben nur durchzusetzen, wenn für deren Einhaltung jenseitiges Paradies versprochen wird. Für abendländische Menschen, welche die seelenlosen Körper ihrer Toten „begraben“, liegt die Hölle oder das Paradies an einem anderen Ort als etwa für die Angehörigen der Pijanjarra oder der Walpiri in Zentralaustralien, welche die Verstorbenen in die Erde „einpflanzen“. Hier bestimmen die in der Gegenwart Lebenden allein, welche „Früchte“ der oder die Eingepflanzte künftig hervorbringen wird, etwa welche von den Eingepflanzten weitergegebenen Vorstellungen von Frau- und Mannsein irdische Hölle oder irdisches Paradies schaffen werden.

Wer die Hauptschuld am „Verlorenen Paradies“ einer Vertreterin eines biologischen Geschlechts zuschreiben kann, wird dieses Geschlecht eher als minderwertig akzeptieren, als wer wie der Philosoph Hegel an die „unendliche Energie der menschlichen Sehnsucht“ oder wie die Autorin Christa Wolf an den Sinn weiblichen und männlichen Daseins im Ausloten der „unendlichen Möglichkeiten, die in uns liegen“, glaubt.

Vielleicht gibt es ein anderes kluges Volk irgendwo auf Erden, welches sich die Lebensweisheit ausgedacht hat: „Sage mir etwas über Deine Sexualität, und ich sage Dir, wer Du bist.“ Und in der Tat, Sexualität ist ein Bereich menschlichen Lebens und Erlebens, und das gilt für Kinder, Jugendliche und erwachsene Frauen und Männer gleichsam, welcher hochgradig historischen, epochalen, politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Einflüssen unterliegt und diese rückbezüglich mitprägt. Weil etwa 1968/69 trotz des Konkubinatsverbots im Kanton Zürich unzählige junge Paare beschlossen, ohne Trauschein zusammenzuleben, und der Kanton Aargau ein solches Verbot nicht kannte, entstand an der Zürcher Kantonsgrenze im aargauischen Spreitenbach eine eigentliche Betonneubaulandschaft. Hollywood hat längst erkannt, dass „der Film – im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit … – als Richtschnur und Massstab für das, was als Weiblichkeit (Anm. des Verf.: und Männlichkeit) zu gelten hat“, dient (Angelika Henschel: Schaulust. C. H. Wäser 1989, S. 19). Am Reissbrett (und Computer) wird das Image eines künftigen Rollenmodells von Weiblichkeit und Männlichkeit entworfenen, und erst dann die Person, die dieses zu füllen hat, gesucht. Eine „natürliche“ Form der Sexualität, die allen Menschen zu allen Zeiten in allen Kulturen gemeinsam war und ist, eine einzige „natürliche“, „normale“, „angeborene“, in den menschlichen Genen festgelegte Form des sexuellen Umgangs von Menschen, ist ebenso ein Mythos wie die Existenz einer einzig wahren, angeborenen, „natürlichen“ Paradiesvorstellung. Der grösste Fortschritt bei der Behandlung psychischer Störungen seit Bestehen der Menschheit wurde 1991 gemacht. Die internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 war revidiert und Homosexualität als Krankheit abgeschafft worden.

Sexualität ist gar ein eigentlicher Seismograph für soziale und kulturelle Veränderungen: ob fast unmerkliche Bewegungen, ob Erschütterungen oder ob eigentliche Erdbeben zu konstatieren sind, immer ist Sexualität die Nadel, mit der gesellschaftsklimatische Vorgänge erkannt, mit der auch der „Zeitgeist“ ergründet werden kann. Etwa 40% meiner männlichen Klienten der letzten drei Jahre vergleichen den Spass an genitaler Sexualität mit der Partnerin mit dem Spass an einer Prüfung, mit dem gewichtigen Unterschied, dass nicht Französisch- oder Mathematikkenntnisse, sondern die eigene Männlichkeit auf dem Prüfstand steht. Für viele junge Männer unter 30 steht die Antwort eines Mitglieds der deutschen Hip-Hop-Gruppe „Fettes Brot“ in der Jugendsendung „Zebra“ von SF1 vom 3.11.96 auf die Frage, wie er es mit Sex halte: „Sex, oh mein Gott, das ist etwas für Menschen, die mit Onanieren nicht klarkommen!“ Andere gehen eine feste Beziehung zu einer Frau ein, wenn das Versprechen nach sexueller Enthaltsamkeit vor der Ehe von der Freundin mitgetragen und keine standfeste Beziehung eingefordert wird.

Anlässlich meiner Lehrtätigkeit am „MAZ – Die Schweizer Journalistenschule“ hat mich im März dieses Jahres ein renommierter Schweizer Journalist angesprochen. Es sei ihm zugetragen worden, dass ich einen Riecher für gesellschaftlich relevante Themen hätte, welches wohl zurzeit das grosse Gesellschaftsthema sei. Die gravierende Orientierungslosigkeit, was „männlich“ sei, habe ich ihm geantwortet. Er hat den Kopf geschüttelt wie nach einem schlechten Scherz und gelacht. Bei der Lektüre der Sonntagszeitung vom 8. Oktober 2006 wird ihm spätestens das Lachen vergangen sein. Im Interview mit der Journalistin Esther Girsberger verriet der Chefredaktor der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“, Giovanni Di Lorenzo: „Der meistverkaufte Titel dieses Jahres war die Ausgabe mit dem Thema ‚Was ist männlich‘.“

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